Zum Zeitpunkt des Artikels war Dr. Güntherschulze Inhaber und Direktor des von ihm gegründeten Tierpark Warder.
Wer als Junge den Roman „Robinson Crusoe“ verschlungen hat, der stellt sich das Einsiedlerleben auf einer tropischen warmen Insel vor, wo Palmen Schatten spenden und einem die tropischen Früchte geradezu in den Mund wachsen. Die Wirklichkeit sieht allerdings ganz anders aus!
Zusammen mit einem 3köpfigen Fernsehteam des NDR hatte ich endlich einmal die Gelegenheit, meinen Jugendtraum wahr werden zu lassen und auf die Insel zu kommen, auf der tatsächlich der echte Robinson Crusoe, ein englischer Seemann namens Alexander Selkirk, 4 ½ Jahre lang (nicht 28 Jahre wie es im Roman steht) alleine überlebt hat. Zusammen mit der kleinen Insel „Santa Clara“ und der deutlich größeren, aber noch 180 km weiter nördlich liegenden Insel „Alejandro Selkirk“, 700 km vor der chilenischen Küste mitten im Pazifischen Ozean, bildet die Insel „Robinson Crusoe“ das 47 qkm große Archipel der Juan-Fernandez-Inseln.
Der Grund meines Besuches auf dieser Insel - immerhin rund 15.000 km
von Deutschland entfernt - waren gerade die Ziegen, von denen sich der echte Robinson die ganzen Jahre hat ernähren müssen. Denn - was ich vor meinem Besuch nicht wusste - er mochte keinen Fisch und musste sich vom Fleisch gejagter Ziegen sowie von Pflanzenteilen, Beeren und anderen essbaren Dingen ernähren, die er vorfand.
Die sogenannten „Juan-Fernandez-Ziegen“, die also seine Leib- und Magenspeise darstellten, sind zoologisch gesehen etwas ganz besonderes. Diese Ziegen waren ehemals Hausziegen aus Spanien und wurden 1563 von dem spanischen Entdecker Kapitän Juan Fernandez als „Frischfleisch-Versorgung“ auf den 3 genannten Inseln in wenigen Exemplaren ausgesetzt. Dies war zu damaligen Zeiten keineswegs ungewöhnlich, sondern ein üblicher Brauch aller seefahrenden Nationen und natürlich auch von Piratenschiffen.
Das ungewöhnliche jedoch ist die Tatsache, dass diese Ziege seit nunmehr 430 Jahren ohne jegliche menschliche Manipulation oder Nutzungsänderung auf 2 der 3 Inseln überlebt und sich dort seither wie eine Wildziege an die neue Heimat angepasst hat. Sie ist genauso scheu geworden wie Wildziegen anderswo in der Welt und hat auf den Vulkaninseln einen sehr harten Überlebenskampf hinter sich, der sie nachdrücklich geprägt hat. Die Tiere sind so scheu, daß sie bei Annäherung schon auf 1000 m Entfernung fliehen. Wer diese Tiere fotografieren oder filmen will - wie wir es getan haben -, der muss sie überlisten. Schon Robinson Crusoe fand heraus, dass eine Annäherung am besten von oben erfolgt. So gelang es auch uns, einige Ziegen in weiter Ferne zu filmen, an die wir uns von einem Hochplateau aus über einen gefährlichen Steilhang angepirscht haben. Dadurch konnten wir die Entfernung auf nur noch 500 m verkürzen. Eine lebensgefährliche Angelegenheit, wenn man bedenkt, dass wir uns mit der Kameraaus-
rüstung über einen Felsvorsprung hinauslehnen mussten, der aus porösem, brüchigem Vulkangestein bestand und tief unter uns die tosende Brandung des Meeres.
Der eigentliche Grund unserer Expedition war aber der, dass wir einige dieser zoologisch und genetisch wertvollen Ziegen nach Europa im-
portieren wollten und zwar in den Haustier-Schutzpark Warder. Denn nur im Haustier-Schutzpark Warder und im Tiergarten Worms stehen noch Zuchtgruppen der Juan-Fernandez-Ziegen (insgesamt 22 Tiere) außerhalb dieser Inselgruppe vor Chile.
Aus wissenschaftlicher Sicht stellen diese anpassungsharten Ziegen einen hochinteressanten Haustier-Typus dar, der sich unter Wildtierbedingungen einem neuen Lebensraum angepasst hat und dort über zahllose Generationen eine kaum anderswo auf der Welt zu findende Überlebensstrategie entwickelt hat.
Der Gesamtbestand dieser Ziegen weltweit liegt bei rund 3000 Tieren und dies bedeutet, dass es sich dabei um eine gefährdete Hausziegenform handelt. Ein weiterer Grund, warum gerade der auf gefährdete Haustierrassen spezialisierte Tierpark Warder die Erhaltung dieser Juan-Fernandez-Ziegen außerhalb der chilenischen Inseln vorantreiben möchte.
Da diese Ziegen dort zusammen mit anderen ausgesetzten Tieren wie Nasenbären, Kaninchen, Mäusen und Ratten sowie einigen eingeführten Vogelarten, u.a. eine Kolibri-Art, eine Bedrohung für die unermesslich wertvollen endemischen (nur hier vorkommende) Pflanzengesellschaften darstellt, werden diese Ziegen heute scharf bejagt. Auch die Nutzung der wenigen (ca. 200) Hausrinder (Zweinutzungstyp Fleisch und Milch) sowie die Haltung von Hauskatzen und andere tierische Hausgenossen ist über die CONAF geregelt und beaufsichtigt. Explodierende Bestände eingeführter Schafe bedeuteten vor über 10 Jahren fast den Exodus der wenigen Weideflächen, so dass sie von CONAF eliminiert wurden. Außer dem kleinen Fischerdorf Juan Bautista auf der Hauptinsel Robinson Crusoe ist die gesamte Insel sowie die beiden anderen Inseln zum chilenischen Nationalpark und international zum Weltnaturerbe und Biosphärenreservat erklärt worden. Nirgends auf einer Ozeaninsel der Welt gibt es so viele endemische, d.h. nur hier vorkommende Pflanzenarten. Allein die bis 1400 m hoch vorkommenden einheimischen Farnarten machen schon 60 Arten aus. Ein „Eldorado“ für Botaniker weltweit. Deswegen darf niemand außerhalb des Dorfes ohne Begleitung durch Ranger der staatlichen Naturschutzbehörde CONAF sich frei bewegen.
Der CONAF-Naturschutzbehörde ist es obendrein zu verdanken, dass die Faunen- und Florenverfälschung durch Einführen von fremden, ursprünglich nicht auf der Insel vorkommenden Tieren und Pflanzen heute zumindest eingeschränkt und kontrollierbar ist. Die Hauptaufgabe der Park-Ranger besteht darin, die verwilderten Juan-Fernandez-Ziegen
auf der Hauptinsel „Robinson Crusoe“ sowie auf der 180 km entfernt liegenden und auch zum Archipel gehörenden Nebeninsel „Alejandro Selkirk“ durch zwei angestellte Berufsjäger scharf bejagen zu lassen. Es ist in den letzten Jahren bereits gelungen, die verwilderte Hausziege auf der kleinsten der 3 Inseln, „Santa Clara“, vollständig auszurotten. Allerdings gibt es dort immer noch wie auf den anderen beiden Inseln ebenso eine große Menge von Wildkaninchen bzw. Wildkaninchen-Hauskaninchen-Kreuzungen (Hunderttausende) sowie aus Mittelamerika eingeführte Nasenbären, die enormen Schaden an der heimischen Kleintierwelt und den nur hier vorkommenden Pflanzengesellschaften anrichten. In diesem Zusammenhang seien auch noch die wohl durch Seefahrer unabsichtlich eingeführten Mäuse und Ratten zu erwähnen, die ebenfalls kaum natürliche Feinde zu verzeichnen haben. Hauskatzen werden von der CONAF nur im Bereich des 600 Seelen-Dorfes „Juan Bautista“ geduldet, dass innerhalb des unter Schutz gestellten Inselarchipels der einzige nicht geschützte Bereich ist. Nur die hier lebenden einheimischen und die ansässigen Fischerfamilien dürfen das für sich und für den Export bestimmte reichhaltige Fisch- und Langustenvorkommen über 8 Monate des Jahres nutzen.
Unter den endemischen Wildtierarten ist vor allem der flimmernde Star, der rote Kolibri, sowie die ca. 3000 südlichen Seebären entlang der Küstenbrandung zu nennen.
Ab dem 15. Mai ist das Fangen von Langusten verboten, damit sich die
Zuchtbestände rund um die Inseln wieder erholen können. Auch dürfen Tiere unter 11 cm Kopf-Rumpf-Länge nicht gefangen werden. Da die Bestände in den letzten Jahren doch stark überfischt waren und Langustenfang rund 85 % der Exportware darstellt, würden sich die Menschen dort ihre einzige Einnahmequelle anderenfalls zerstören. Einnahmen aus dem Tourismus mit insgesamt 3000 Touristen pro Jahr fallen im Jahr noch recht mager aus.
Das Hauptproblem der CONAF-Naturschutzbehörde ist jedoch die Bekämpfung von Pflanzen, die neben ihrer fremden Herkunft auch noch durch ein geändertes Wuchsverhalten der Bodenerosion dieser Vulkaninseln Vorschub leisten, indem sie im unteren Hangbereich zwischen der einzigen Siedlung und den zum Teil bergig zerklüfteten höheren Hanglagen die dort künstlich angesiedelten schnellwüchsigen Pflanzenarten, Sträucher und Bäume geradezu abwürgen. Der gefährlichste Feind ist dort eine banale Pflanze unserer Breiten, die Brombeere. Sie wuchert hier ähnlich wie Lianen bis in die Baumkronen hinein und erdrosselt den Wirtsbaum und erstickt ihn mit Blattmasse. Bei diesen Bekämpfungsmaßnahmen sind großzügige Unterstützungsgelder aus den Niederlanden im Spiel, um mit der Hilfe einheimischer Arbeitsloser der Inselbevölkerung Brombeerpflanze um Brombeerpflanze abzuschneiden und die unterirdischen Teile durch einen Giftaufstrich abzutöten.
Die weitaus natürlichere und traditionelle Bekämpfung von Kaninchen und verwilderter Hausziege in den zerklüfteten Vulkanbergen erfolgt ausgesprochen spannend - wenn auch nicht unbedingt für zart besaitete Zuhörer geeignet -. Kaninchen werden oft mit einer ganz einfachen Methode durch aufgestellte Schlingen auf den deutlich überall sichtbaren Wildwechseln gefangen, indem die gerade auf Körperdurchmesser geöffnete Schlinge an einem Stock befestigt ist, der seitlich neben dem Wechsel in den Boden gerammt wird. Diese Jagdmethode ist sehr erfolgreich und führt täglich zum Fang und zur Fleischverwertung von Dutzenden von Kaninchen, die die Einheimischen neben Fisch, Langusten und Ziegenfleisch gerne auf den Speisezettel nehmen. Die zweite Methode ist der Versuch, möglichst viele der verwilderten Juan-Fernandez-Ziegen auf der Hauptinsel und auf der Nebeninsel „Selkirk“ zu erlegen. Auf ausdrücklichen Wunsch der Naturschutzbehörde CONAF sollen die beiden angestellten Jäger und auch interessierte Fischer aus dem Dorf gemeinsam diesen Ziegen nachstellen. Von den vor 10 Jahren noch schätzungsweise 8000 Juan-Fernandez-Ziegen auf allen 3 Inseln wurde die kleinste Insel „Santa Clara“ bereits „leergefangen“ und der gesamte Ziegenbestand auf den beiden anderen Inseln auf etwa 3000 Tiere Gesamtbestand zurückgedrängt. Etwa 300 Tiere davon sind auf der Hauptinsel „Robinson Crusoe“ noch vorkommend. Die Jagdstatistik weist auf, daß auf der nur schwer zu erreichenden Nebeninsel „Alejandro Selkirk“ in der 8 Monate währenden Langusten-Fangperiode - während der Fischer mit ihren Familien auf dieser entlegenen 180 km entfernten Insel vorübergehend leben - ca. 300 Tiere erlegen, sofort ausschlachten und als Pökelfleisch zwischengelagert im Mai wieder mit zur Hauptinsel zurücknehmen. Auf der Hauptinsel ist die Jagd noch ungemein schwieriger und es werden pro Jahr nur etwa 40 der dort vorkommenden Tiere erlegt. Diese Zahlen sind eindrucksvoll, wenn auch leicht erkennbar ist, dass bei Nichterhöhung der Abschuss- oder Fangzahlen die Reproduktionszahlen der verwilderten Ziegen wieder ansteigen werden.
Dem Tierpark Warder ist es gelungen, auf der Nebeninsel „Selkirk“ durch Ranger der CONAF-Behörde und dort noch stationierte Fischer 3 männliche und 1 weibliche Juan-Fernandez-Ziege zur Blutauffrischung für den einzigen Bestand dieser Ziegen außerhalb von Chile fangen zu lassen. Und dabei ist der Lebendfang äußerst ungewöhnlich, da die Beutetiere sofort getötet und ihr Fleisch haltbar gemacht wird. Die Methode ist so einfach wie brutal:
Mit wenigen ausgebildeten Jagdhunden verstecken sich ca. 10 bis 20 Fischer und Jäger an einem ausgesuchten Hochplateau der Inseln hinter Felsen, die ringförmig um die freie Fläche herum stehen. Einige treiben dann mit Hunden aus den zerklüfteten Bergen kleine Ziegengruppen zusammen und drücken sie auf dieses Hochplateau. Sobald die Ziegen dort zusammengedrängt in der Mitte des Platzes stehen, stürmen alle gleichzeitig mit einem Messer in der Hand auf die Ziegen zu und jeder versucht in vollem Lauf eine Ziege zu greifen und ihr im Laufen die Kehle durchzuschneiden. Einigen geschickten Fängern gelingt es mitunter, bis zu 3 Ziegen in einem einzigen Spurt zu erlegen, indem er die erste gegriffene Ziege tötet, sie im Lauf fallen lässt und nach der nächsten Ziege greift. An so organisierten Jagdtagen können dann auf einmal ca. ein Dutzend Tiere erlegt werden. Von den gleichen Männern wurden die für Warder bestimmten 4 Juan-Fernandez-Ziegen gefangen, ohne dass ihnen allerdings dabei die Kehle durchgeschnitten wurde.
Wir mussten leider am 16. Mai die Insel nach anstrengenden Drehtagen verlassen und konnten die Ankunft der gefangenen Ziegen zusammen mit dem Versorgungsschiff, dass die Jäger und Fischer von der Insel „Selkirk“ abholen sollte, nicht mehr miterleben. Holz ist auf der Insel Mangelware und wird mit Gold aufgewogen. Dennoch ließ ich 2 Transportkisten dort vor Ort fertigen, mit denen die Tiere nach Ankunft auf der Hauptinsel mit dem Versorgungsschiff am übernächsten Tag zum 700 km entfernten chilenischen Festland nach Valparaíso transportiert werden sollten.
Dort standen sie zunächst 42 Tage in Quarantäne und sind in diesen Tagen über Zürich und dem Flughafen Hamburg wohlbehalten nach Warder gelangt, um für die Blutauffrischung des einzigen deutschen Bestandes in Warder und im Tiergarten Worms - mit dem wir in engem züchterischen Blutaustausch stehen - zu sorgen.
Auch hier in Warder müssen sie noch eine Zeitlang in Quarantäne stehen. Obendrein können sie nicht wie die ruhig grasenden Juan-Fernandez-Ziegen im Haustierpark-Gehege untergebracht werden, da sie extrem gute Kletterer und Springer sind, die hinter 2 m hohen Wildgatterzäunen untergebracht werden müssen, damit sie nicht ausbrechen.